Der Beender der Widerspüche

Kurzgeschichte von Katja Wolterstorff

Endlich – Viktor hatte es geschafft! 30 Jahre Askese, Yoga, Vipassana, Zen und Tai Chi. Algensuppe, Getreidebrei und lauwarmes Wasser. Fasten. Zölibat. Die beständige Ausrichtung auf sein heiliges Mantra. Und all dies in einer deutschen Stadt, inmitten aller Versuchung. Es war ein Wunder. Er war den ganzen Weg der Selbstüberwindung gegangen, ohne ein einziges Mal zu straucheln.
Letzte Nacht, nachdem er die achte Stunde in regloser Meditation verbracht hatte, war es endlich soweit: Gott war ihm erschienen. In einer Gloriole aus goldenem Licht hatte sich eine gestaltlose Gestalt offenbart - pure Energie, die sich gebündelt hatte zu einer Flamme intensivster Klarheit. Die Flamme hatte die Form Shivas angenommen und gesprochen: „Viktor, du hast es geschafft. Du bist einer der ganz wenigen, die bis zum Ende gehen und durchhalten. Du hast auf alles verzichtet, was ein normal sterblicher Mensch sich erträumt.“ Kurz hatte es Viktor durchzuckt: Viktor - der Sieger! Vor seinem geistigen Auge waren die Gelegenheiten vorbei defiliert, auf die er verzichtet hatte: Frauen, seine Karriere als Universitätsdozent, der neue Ferrari, Helikoper-skiing… Er weiß, dass es ihn nirgendwohin geführt hätte. Denn was er will, ist dies, die Begegnung mit der göttlichen Flamme.


Die Flamme hatte erneut gesprochen und es war, als ob Posaunenklänge erschallten: „Viktor, du kannst nun zurückkehren auf den Marktplatz der geschäftigen Welt. Von nun an wirst du als Bodhisattva bis an das Ende aller Zeiten den Ozean des Leidens leeren: Willst du vielen Menschen als Lehrer dienen? Möchtest du als Asket in einer Höhle leben und für die Tiere des Waldes sorgen? Oder möchtest du als der Beender aller Widersprüche die Welt retten?“ Kurz hatte Viktor ein kleiner Schmerz durchzuckt. Irgendwie hatte er sich die Belohnung anders vorgestellt. Frauen, Karriere, Ferrari waren kurz vor ihm erschienen. Ach was, das hatte er ja hinter sich gelassen. Was waren noch die Alternativen: Lehrer? Schon reizvoll. Er hatte sich vor einer Menschenmenge auftauchen sehen, die Erlösung suchend zu ihm aufschaute. In der vordersten Reihe streckten ihm junge, hübsche Frauen ihre Arme entgegen. Nein, er hatte die Gefahr sofort erkannt. Ich bin ja nicht blöd, hatte er gedacht. Okay, nächste Möglichkeit. Asket. Hm. Eigentlich hatte er die letzten 30 Jahre so verbracht. Bis auf die Höhle…Nein, wie hatte Shiva gesagt: Jetzt war es an der Zeit zurück zu kehren auf den Marktplatz. Blieb nur noch die dritte Variante: Beender aller Widersprüche, der die Welt rettet. Diese Aufgabe war ihm etwas abstrakt erschienen. Er hatte Shiva gefragt, ob es für diese Wahl eine Arbeitsbeschreibung gibt. Die göttliche Gestalt Shivas hatte gelacht. „Viktor“ hatte sie gesagt, „was hast du in den letzten 30 Jahren erkannt?“ „ Dass ich nichts bin“, hatte er geantwortet. Shiva hatte genickt. Und Viktor hatte gewartet. Aber es war keine weitere Erklärung gekommen. Plötzlich waren die Koans seines Zenmeisters vor ihm aufgetaucht: the sound of one hand clapping. The sound of MU. Jetzt hatte er die göttliche Weisheit völlig erkannt. Ja, ich bin der Beender der Widersprüche, war es ihm durch den Kopf geschossen. Im selben Moment war Shivas Lichtgestalt in tausende goldene Funken zerstoben. Einer von ihnen hatte Viktor auf seiner linken Schulter getroffen. Es hatte höllisch gebrannt. Aber er hatte sich nicht bewegt. Die Vision war verschwunden, einen Nachhall wie Spährenklang zurück lassend.

Viktor wachte auf aus tiefer Versenkung. Irgendetwas war nun anders. Er spürte das Brennen wo der Funke ihn getroffen hatte. Er ging zum Spiegel und sah ein goldenes Leuchten. Er war auserwählt.
Am nächsten Morgen verließ er seine Wohnung und machte sich auf in die Stadt. Er hatte eine Aufgabe. Menschen eilten an ihm vorbei. Einige bissen hastig in Brötchen oder tranken Kaffee im Laufen. Andere schleppten Tüten mit Einkäufen. Wieder andere warfen einen Blick auf die Uhr und beschleunigten ihren Schritt. Dazwischen verstellten Gruppen von Touristen den Weg, der Strom der Menschen teilte sich und schwappte an ihnen vorüber. Da Viktor weder eilte noch stand, war er vielen im Weg. Sie rempelten ihn an, blieben stehen und wurden still. Eine unerklärliche Ruhe ging von ihm aus, der niemand widerstehen konnte.
Aber Viktor erkannte, dass dies nicht die Stätte seines Wirkens sein würde. Hier gab es keine Herausforderung. Er wandte seine Schritte nach Süden. Sie führten ihn allmählich hinaus aus der Stadt, in einen Vorort, den er noch nie gesehen hatte. Er musste in den letzten Jahren entstanden sein, als er sein asketisches Leben im 20m Radius um seine Wohnung geführt hatte. Er blieb vor einem Schaufenster stehen. The Art of Being stand dort. Neben einigen Büchern und DVDs zweifelhaften Inhalts war dort ein Buch ausgestellt: Herzensfeuer – eine Liebeserklärung an die Paradoxien des Lebens. Jetzt wusste Viktor, dass er am richtigen Ort war. Shiva hatte ihn geführt. Der Funke in seiner Schulter glühte. Zum Glück war das Büro nicht geschlossen. Eine hübsche Frau mit langen lockigen Haaren saß an einem Computer. Viktor klingelte. Die Frau öffnete. „Ich möchte Saleem Riek sprechen. Es geht um sein Buch.“ Die Frau betrachtete ihn. Normalerweise hätte sie nachgehakt, einen Termin vereinbart, das Buch verkauft - aber die totale Entschlossenheit in Viktors Stimme und seine endgültige Ausstrahlung ließen sie inne halten.


In diesem Moment betrat Saleem aus dem rückwärtigen Raum das Zimmer. Er erkannte sofort, dass dies hier kein normaler Besucher war. Auch Viktor hatte keinen Zweifel, wer vor ihm stand: Das musste der Mann sein, der das Buch geschrieben hatte. Die beiden standen sich jetzt gegenüber, Auge in Auge. Für einen kurzen Moment erkannten sie sich und das verband sie untrennbar miteinander. „Lass uns rausgehen“, sagte Viktor. Draußen bemerkte Saleem: „Auf so einen wie dich habe ich gewartet.“ „ Ich weiß“, antwortete Viktor. „Du brauchst Hilfe. Ich habe Gott gefunden und bin der Beender aller Widersprüche.“ „Schade“, sagte Saleem. „Ich liebe Widersprüche. Deshalb bin ich hier.“ Viktor lächelte. „Ich bin der Auserwählte.“ Er zeigte Saleem den göttlichen Funken in seiner Schulter. Saleem war beeindruckt. Nicht jeden Tag trifft man Auserwählte… „Warum bist du zu mir gekommen?“ „Weil ich dich lehren werde, die Widersprüche zu beenden.“ Saleem staunte. Weder hatte er darum gebeten noch wurde er gefragt. Gott schien ganz schön willkürlich in der Auswahl seiner Methoden. „Moment mal. Warum sollte ich daran interessiert sein, die Widersprüche zu beenden?“ „Weil es das Ziel menschlichen Seins ist. Und weil Gott es so will.“ Saleem schwieg. Eine tiefe Traurigkeit stieg in ihm auf. Konnte es sein, dass Gott seine widersprüchliche Welt so wenig liebte? Dass es das ultimative Ziel war, sie hinter sich zu lassen? Eine Welle des Zorn brauste in ihm auf. „Und was ist mit dem freien Willen? Und mit der Liebe?“ Viktor lächelte erneut. „Das müsstest du doch mittlerweile verstanden haben, Saleem.“ „Nein. Erkläre es mir.“ „Naja, da habe ich dich wohl überschätzt“, seufzte Viktor. „Aber gut: Den freien Willen gibt es nicht wirklich und Liebe gibt es nur, wenn alle Verhaftungen beendet sind. Sonst ist sie relativ. Liebe aber ist absolut.“ Saleem stutzte. Relativ – Absolut. Immer wieder stieß er auf diesen Widerspruch. Jetzt waren sie endlich am Kern angelangt. Saleem dachte, dass es wirklich gut war, einen Auserwählten, einen Gesandten Gottes zu treffen, um ein für alle mal zu klären, was es damit auf sich hat. Zwar gingen ihm dessen arrogante Art und seine kryptischen Sätze mittlerweile ziemlich auf den Keks aber was soll’s – man lernt ja nie aus…


In diesem Moment leuchtete Viktors Schulter auf, ein unglaublicher Glanz breitete strömte aus ihr hervor. Peng! Millionen Partikel schwebten in der Luft. Saleem wich erschrocken zurück, gleichzeitig vollzog sich vor seinen Augen ein unglaubliches Schauspiel. Die Partikel trieben in einem Wirbel zusammen, verdichteten sich und nahmen die Gestalt Shivas an, die sich nun vor Viktor auftürmte. Gleichzeitig spürte Saleem ein heißes Brennen in seinem Bauchnabel. Goldene Lichtfünkchen tanzten aus ihm heraus, runde, schlanke, lange, geschmeidige, anmutige, sanfte Formen nahmen Gestalt an. Vor ihren Augen materialisierte sich die schönste Frau, die Saleem jemals gesehen hatte.
Sie lächelte, ihre perlenweißen Zähne schimmerten und ihr sinnliches Lachen erfüllte den gesamten Kosmos. Sie blinzelte Saleem zu. Und sprach: „Saleem, höre nicht auf Shiva. Gerade noch rechtzeitig konnte ich kommen und den alten Kerl stoppen. Dem da hat er auch schon den Kopf verdreht mit seinen komischen Ideen.“ Sie deutete auf Viktor. „Aber zu dir passt dieser Kurs nun wirklich nicht. Bleib lieber bei mir…“
Shakti berührte Saleem mit ihrer Hand aus purer Liebe. Es war die sanfteste, sinnlichste Berührung, die er jemals erlebt hatte. Sie sah ihm tief in die Augen. In ihnen konnte Saleem die ganze Welt erblicken: Krieg und Frieden, Hunger und Überfluss, Macht und Ohnmacht, Glück und Unglück. Ein Strudel von Bildern wirbelte von hell nach dunkel nach hell, in einem beständigen Kreislauf aus immer neuen Formen. Shakti öffnete ihre rosenblattfarbenen Lippen, und Saleem spürte etwas wie Schmetterlingsflügel auf seinem Mund. Dann ließ Shakti die Spitze ihrer Zunge über seine Lippen spielen. Die Zeit stand still. Schließlich löste sie sich von ihm. „Du gehörst mir, ganz und gar.“ Saleem lief ein Schauer über den Rücken. Zwar fühlte er sich gelinde gesagt gesegnet durch Shaktis Kuss. Aber ihre Worte klangen eigentlich eher wie eine Drohung als wie ein Versprechen. Shivas Stimme donnerte auf sie herab. „Er gehört mir!“ Der Gott tat einen drohenden Schritt nach vorne. Shaktis wunderschönes Anlitz verzerrte sich. In rasender Geschwindigkeit verwandelte es sich in die wilde Grimasse von Kali, der göttlichen Zerstörerin. Auch sie wuchs zu gigantischer Größe. Shiva erhob seinen Dreizack, Kali rasselte mit ihrer Kette aus Totenköpfen. Beide stimmten ein furchtbares Gebrüll an.


Saleem hörte ein Flüstern neben sich. „Komm, wir verschwinden“, raunte Viktor ihm zu. Saleem war hin- und hergefetzt. Fasziniert und entsetzt über dieses Schauspiel war er unentschieden, ob er seine Beine in die Hände nehmen und losrennen sollte oder lieber Zeuge dieses einmaligen Schauspiels war. Mittlerweile wurden Shiva und Shakti handgreiflich. Kali keifte: „Du weißt genau, wie es letztes Mal ausging! Überall auf der Welt kannst du es sehen, wie ich auf dir rumtanze!“ Shiva: „Ha! Das war vor Äonen, wollen ja mal sehen, was du jetzt drauf hast, du alte Schlampe!“ „Du aufgeblasener Wichtigtuer, du Prolet!“ Auf einmal wusste Saleem, dass sich ihm hier nichts Neues bieten würde. Das gleiche Szenario hatte er in zigfachen Varianten erlebt, in seinen Gruppen in seiner Paarberatung…
„Ja, komm, wir gehen“, sagte er zu Viktor. Sie ließen das Knäuel der keifenden Götter hinter sich und landeten in einem kleinen Cafe. Viktor schüttelte seinen Kopf und sagte: „Du, ich war ganz lange auf einem relativ komischen Trip.“ Saleem lächelte ihm zu. „Absolut.“ Dann freuten sich beide. Einfach so.

 

Dieser Text enstand anläßlich der Feier zu Saleem Rieks 50. Geburtstag. Er ist als Hommage an seine literarische Ader gedacht, der wir eine Fülle kreativer, berührender Texte verdanken.
In meiner Funktion als Lektorin einiger dieser Texte habe ich mich auch intensiv mit "Herzensfeuer" auseinander gesetzt. Das Thema Widersprüche, dem das Buch ja gewidmet ist, und einige intensive Diskussionen zum Thema Satsang, Erwachen, etc. die ich mit Saleem zum Teil ziemlich kontrovers geführt habe, haben mich zu diesem Text inspiriert. Er ist nicht all zu ernst sondern eher absurd gemeint - vielleicht regt er trotzdem etwas zum Nachdenken an...?

Katja Wolterstorff

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