Tantra als Schule der Liebe
Ist Tantra eine Liebesschule? Wenn ja, was wird darunter verstanden? Besuchen Frauen und Männer Tantragruppen, um lieben zu lernen oder um im Altag unerfüllte sinnliche, erotische oder emotionale Bedürfnisse zu befriedigen? Verbirgt sich hinter einer "Liebesschule" Unterrricht in esoterischen Sexualpraktiken?
Wenn ich das Image von Tantra in der Öffentlichkeit betrachte, dann wird dieser Eindruck bestätigt, und wahrscheinlich auch nicht nur zu Unrecht. Schade, denn auf diese Weise werden viele Menschen abgeschreckt, die sich im Grunde ihres Herzens wirklich für mehr Liebe öffnen möchten und für die Tantra ein Weg sein könnte. Die meisten Menschen, die überhaupt schon einmal etwas von Tantra gehört haben, halten Tantra für nichts weiter als eine exotische Sexualtechnik. Kein Wunder, wenn wir in der esoterischen Ecke das Buchladens das Tantra-Regal betrachten: 90 Prozent der Bücher scheinen sich um Sex zu drehen. Kein Wunder, wenn wir im Bahnhofskiosk Videos wie "Tantra-Sex" sehen, die wie Softpornos aufgemacht sind. Kein Wunder, wenn gehobenere Bordelle ihr Angebot "Tantra-Massage" nennen. Unsere Kultur greift von jeder neuen Entwicklung zunächst einmal den Skandal auf, und das ist bei Tantra die Tatsache, daß Sex nicht nur bejaht, sondern sogar kultiviert und zur spirituellen Entwicklung genutzt wird. Sex in der Kirche sozusagen, das interessiert die Medien.
"Nichts für mich" ist die folgerichtige Reaktion vieler Frauen und auch mancher Männer, denen eine so fokussierte Ausrichtung auf Sexualität Angst macht, die glauben, sie seien dafür nicht schön, jung, emanzipiert, promisk oder selbstbewußt genug, oder deren Suche und Sehnsucht über Sex hinaus geht. "Genau das ist es" denken wiederum manche Männer (und selten auch Frauen), die dann am Telefon nicht schnell genug herausfinden können, ob sich in unseren Kursen denn auch alle ausziehen und ob es mehr oder weniger garantiert auch zum sexuellen Kontakt kommt.
Liebe und Sexualität sind in unserer Kultur so sehr gespalten, daß für viele Menschen die Offenheit gegenüber Erotik und Sex im Tantra als Beleg für Lieblosigkeit, Mißachtung von Grenzen oder mangelndem Respekt gilt. Für andere steht "Gefühlsduselei" nur im Weg, wenn sexuelle Wünsche und Phantasien endlich Realität werden sollen oder wenn Sex als Expresszug zur Erleuchtung dienen soll.
Ja, Tantra verbindet Sexualität und Spiritualität, öffnet die "innere Flöte" vom Wurzel- bis zum Kronenchakra. Aber der Weg führt durch das Herz, die Brücke ist die Liebe. Manche Tantriker scheinen eine Art "Bypassoperation" um das Herz herum vorzunehmen, suchen die höchste Ekstase mit sexueller Lust zu vereinen, aber wollen mit ihrem emotionalen Schmerz nicht behelligt werden, der das Herz gepanzert hält. Ganzheit und Heilung können so nicht geschehen, denn wirkliche Vereinigung ist nur möglich in einem Zustand der Liebe.
Aber was ist Liebe überhaupt, dieses viel besungene, gedichtete, mißverstandene und mißbrauchte Wort, das doch von unserer Sehnsucht umschwirrt wird wie von den Motten das Licht?
Zunächst einmal möchte ich erwähnen, was Liebe nicht ist:
Liebe ist nicht Bedürfnisbefriedigung, auch wenn die meisten Liebesbeziehungen zum Zwecke der
Bedürfnisbefriedigung eingeggangen werden.
Liebe hat nichts damit zu tun, Erwartungen zu erfüllen oder erfüllt zu bekommen. Erwartungen sind Stolpersteine auf dem Weg zur Liebe.
Liebe ist nicht Wohlbefinden, obwohl viele Menschen Liebe suchen, um sich wohl zu fühlen. Liebe stellt sich nicht ein, wenn wir unserem Unwohlsein chronisch ausweichen.
Liebe ist nicht Zweisamkeit, obwohl unsere Kultur vorgaukelt, daß Zweisamkeit der Gipfel der Liebe sei. Die romatische Falle, Liebe für eine Person reservieren zu wollen, ist einer der Hauptgründe für das verbreitete Elend in sogenannten Liebesbeziehungen.
Liebe ist nicht Erotik oder Sexualität. Sexuelle Anziehung als solche ist anonym, archaisch und rücksichtslos. Sie wird erst durch die Verbindung zum Herzen eine Angelegenheit von Ich und Du. Sexualität ist blind, sie wird erst durch die Liebe sehend.
Liebe ist auch nicht Glück. Aber Glück ist ein ebenso weites Feld...
Vor einiger Zeit war ich Zeuge eines gruppendynamischen Spiels. Sechs Mitglieder einer Gruppe waren aufgefordert, sich selbst bezüglich der eigenen Kompetenzen einzuschätzen und dementsprechend zwischen Platz eins bis sechs einzuordnen. Zunächst ging es ums Geld. Abgesehen von kleinen Differenzen konnte man sich über die Reihenfolge einigen. Dann ging es um Liebe. Es begann ein nicht enden wollendes Gerangel an Platz eins...
Experten der Liebe glauben viele zu sein, und dieser Glaube scheint auch durch Beziehungsdesaster und Kontaktschwierigkeiten hindurch unerschütterlich zu sein. Wenn doch nur die andern auch so lieben würden wie wir selbst. Wer von sich nicht so überzeugt ist, hält Lieben vielleicht für eine Art Naturtalent, das, wenn man es schon nicht geerbt hat, sowieso nicht erreichbar ist. Uns dafür zu öffnen, daß es über die Liebe noch einiges zu lernen gibt, ist das Tor, durch das wir mehr Liebe in unser Leben einladen können.
"Love is letting be" (Lieben heißt Sein Lassen) ist einer der Kernsätze von unserem Lehrer Alan Lowen, und er ist auch zum Leitsatz unserer Arbeit geworden. Das klingt einfach und ist auch einfach, aber gerade zu dieser Einfachheit zurückzukehren ist oft schwer. Es ist ein unendlicher Prozess, all die Stimmen in uns wieder zu Bewußtsein kommen zu lassen, die uns suggerieren, wir seien nicht o.k. oder das, was gerade geschieht,sei nicht o.k. Wann immer wir etwas bewerten, lassen wir es nicht sein, sondern wir machen etwas daraus: etwas Gutes oder Schlechtes. Frage einen Menschen "wie fühlst Du Dich?" und meistens wird die Antwort nicht sein, wie er oder sie sich fühlt, sondern die Bewertung dieses Gefühls: gut,schlecht oder vielleicht mittelprächtig. Viel seltener bekommen wir eine wirkliche Antwort: traurig, wütend, ängstlich, ruhig.
"Sein lassen" braucht zuallererst, daß wir uns erlauben zu fühlen, mit allen Sinnen wahrzunehmen, was wirklich da ist: in uns selbst, im anderen, zwischen uns. Je mehr wir uns erlauben zu fühlen, - und das beginnt natürlich mit dem Fühlen unseres physischen Körpers - begegnen wir den Gefühlen, die wir nicht geschehen lassen, die wir zurückweisen. Die Wurzel dafür ist das, was wir als Kinder gelernt haben: sei keine Heulsuse, ein Indianer kennt keinen Schmerz, halt Dich zurück, Du brauchst keine Angst haben, mach nicht so ein langes Gesicht... Wir haben gelernt, daß bestimmte Gefühle nicht o.k. sind und daß wir sie besser nicht sein lassen, weil wir sonst physisch oder emotional bestraft werden. Oft ist uns nicht bewußt, wie diese alten Entschlüsse nicht zu fühlen unsere Liebe begrenzen.
Dasselbe geschieht auch in Tantragruppen. Das Ritual ist wunderschön inszeniert, alle sind sinnlich, ekstatisch, glücklich, und Du stürzt plötzlich in einen alten Schmerz ab. Darf das dann dasein oder versuchst Du, dem tantrischen Image gerecht zu werden, das vermeintlich oder real von Dir erwartet wird? Alle ziehen sich aus und Du brauchst in diesem Moment einfach den Schutz Deiner Kleidung. Kannst Du Dir dann erlauben, bei deiner Wahrheit zu bleiben? Leider höre ich oft, daß in Tantragruppen Grenzen mißachtet werden, für Individualität zu wenig Platz ist und Unvorhergesehenes sich kaum entwickeln kann. Eine Gruppe, in der Liebe wachsen und blühen soll, braucht diese Freiheit. Es ist Aufgabe der Gruppenleiter, eigene Gefühle von Inkompetenz oder Autoritätsverlust zu spüren und anzunehmen, die sich schnell einstellen können, wenn nicht jeder Teilnehmer den Anweisungen folgt. Damit ein Prozess wirklich tief geht braucht es keinerlei Zwang oder Druck. Im Gegenteil, freiwillige Öffnung geht ungleich viel tiefer als eine von außen geforderte. Letzterer fehlt die Liebe.
Liebe ist kein spezielles Gefühl. Liebe ist ein Zustand, in dem jedes Gefühl sein darf, in dem wir die Existenz so annehmen können wie sie ist...
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