Ein hilfreiches und heilsames Lernklima

Lernen ist eine unmittelbare Konsequenz der offenen, neugierigen Natur unseres Wesens. Wir werden „unfertig“ geboren. Lernen ist unvermeidlich. Es beginnt allerdings nicht erst mit unserer Geburt, sondern bereits im Mutterleib. Lernen heißt, uns im Dialog mit unseren Lebensbedingungen und Bezugspersonen die Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, die wir zum Leben und Überleben brauchen bzw. die uns dabei helfen, unsere Anliegen zu verfolgen und zu verwirklichen.

Lernen ist durchaus nicht immer angenehm. Sätze wie „Manchmal werden wir erst durch Schaden klug!“ deuten an, dass wir zuweilen solange unbelehrbar bleiben, bis wir durch schmerzhafte Erlebnisse aus der Bahn geworfen werden. Die berühmte heiße Herdplatte wird gerne zitiert, wenn es darum geht, Lernen durch Schmerz zu veranschaulichen. Aber es gibt noch einen anderen Pol, der uns zum Lernen motiviert: unsere Lust auf Neues und die Aussicht auf neue lust- und freudvolle Erfahrungen. Beide Pole haben wir mit dem Tierreich gemeinsam. Tiere lernen genau wie wir, Unangenehmes zu meiden und Angenehmes zu suchen. Und wie Tiere sind wir durch lustvolle Belohnungen und schmerzhafte Bestrafungen manipulierbar bzw. konditionierbar.

Was uns von Tieren unterscheidet ist die Fähigkeit, Dinge zu lernen, die unmittelbar weder Schmerz vermeiden helfen noch Lust einbringen. Unsere Bedürfnisse sind komplex und anspruchsvoll, und damit auch unsere Interessen, unsere Werte und unsere Motivationen. Von den unmittelbaren körperlichen Instinkten bis hin zu spiritueller Suche gibt es ein ganzes Spektrum von Anliegen und Bedürfnissen, die zu befriedigen wir allerlei zu lernen bereit sind. Was kann helfen, dass auch Lernen, das nicht unmittelbar weiter motivierende Wirkungen entfaltet, Freude macht? Wie gehen wir dabei mit den Mühen und Herausforderungen, mit den Hindernissen und Rückschlägen um, die unvermeidlich mit dem Risiko neuer Erfahrungen einhergehen?

Wir haben wohl alle einschlägige Erfahrungen damit machen müssen, dass Lernen eine ziemlich freudlose Veranstaltung sein kann. Was wir damals gelernt und vor allem wie wir gelernt haben, war oft nicht nur unangenehm, sondern es hat uns zutiefst verletzt und von uns selbst entfremdet. Eine wesentliche Qualität der Schule des Seins ist es daher, für ein Lernklima zu sorgen, das uns bestmöglich in unserem Wesen unterstützt. Um immer wieder mit Freude zu lernen, die uns dann auch über schwierigere Phasen hinweg trägt, braucht es gänzlich andere Bedingungen, als wir sie in der Schule unserer Kindheit kennen gelernt haben. Welches sind also die Voraussetzungen dafür, dass wir gerne und mit Begeisterung lernen?

  1. Eigene Motivation. Freiwilligkeit scheint mir am wichtigsten zu sein. Jemanden zum Lernen zwingen ist so sinnvoll wie einen Hund zum Jagen zu tragen. Nur wenn wir lernen wollen, wenn wir von innen heraus motiviert sind zu lernen, macht es auf Dauer Spaß und Freude und bringt uns nachhaltig weiter. Wenn wir aus eigenem Antrieb heraus Neues entdecken, Kenntnisse erweitern, Fähigkeiten hinzugewinnen und auf diese Weise immer wieder Neuland entdecken, dann geben wir auch nicht gleich auf, wenn es mal anstrengend und unbequem wird. Im Gegenteil, dann wachsen wir an unseren Herausforderungen und haben Freude daran.
  2. Sinnenfrohes Lernen. Mit allen unseren Sinnen beteiligt zu sein macht das Lernen vielfältig und lebendig. Rein intellektuelles Lernen kann auch Freude bereiten, aber wenn wir dabei noch fühlen, schmecken, riechen, hören und sehen, dann kann das unser Wohlbefinden und unser Selbst-Bewusstsein vervielfachen. Wir öffnen uns mehr für das, was ist, und das, was wir lernen, kann sich viel besser in uns verankern. Die Schule des Seins ist eine sinnenfrohe, körper- und lustfreundliche Schule. Prickelnder Neugier mit allen Sinnen nachzugehen und zu feiern, gibt dem Lernen – weit über sexuelle Themen hinaus – auch eine erotische Dimension. Einmal nehmen wir die zu lernende Materie eher rezeptiv in uns auf, dann wieder durchdringen sie aktiv. Das Wechselspiel zwischen diesen beiden Polen entfaltet eine Dynamik, wie wir sie sonst vielleicht nur in einem gelungenen Liebesspiel erleben.
  3. Emotionales Lernen. Der Hirnforschung ist längst bekannt, dass Erfahrungen und Erkenntnisse viel eher Spuren in uns hinterlassen – und das heißt auch in der Struktur unseres Gehirns – wenn sie emotional besetzt sind. Unsere Gefühle vermitteln uns: hier geht es um etwas, das uns berührt und bewegt. Dadurch bekommt das Geschehen unmittelbare Bedeutung.
    In der Schule des Seins sind alle Emotionen grundsätzlich willkommen. Auf dieser Basis fällt es leichter, mit unseren Gefühlen adäquat umgehen zu lernen, sodass wir uns als lebendige und fühlende Wesen erleben und genießen. Unsere Gefühle sind – vielleicht noch mehr als unsere Sinne – kraftvolle Anker für alle Arten von Lernprozessen. Wenn wir mit unseren Gefühlen und von ganzem Herzen dabei sind, dann sind wir zwar auch manchmal traurig oder wütend, wenn etwas nicht so klappt, wie wir uns das vorgestellt haben. Dennoch verschafft es uns tiefe Befriedigung zu lernen, immer wieder mit uns selbst und unserer Umgebung eine Balance herzustellen und dadurch zu reifen.
  4. Fehler. Aus der Perspektive des Seins existieren genau genommen gar keine Fehler. Fehler gibt es nur bezogen auf bestimmte Ziele, die aber niemals absolut sind, sondern von Menschen gewollt und gewählt. Alles ist für etwas gut und für etwas anderes schlecht. Auch Fehler sind immer für etwas gut. Die Frage ist nur für was und ob sich das mit unseren individuellen Zielen deckt oder nicht. Insofern geht es auch nicht darum, alle Fehler schön zu reden und vor ihren Konsequenzen die Augen zu verschließen. Fehler sind dazu da, um daraus zu lernen, und insofern sind sie in der Schule des Seins stets willkommen. Dadurch ist es leichter, sie uns einzugestehen und tatsächlich aus ihnen zu lernen.
    Durch entsprechendes Wohlwollen entsteht ein Lernklima, in dem wir entspannen und unsere Kreativität frei fließen kann. Die meisten kreativen Neuschöpfungen sind aus traditioneller Sicht „Fehler“.
    Fehler zu sanktionieren erzeugt Angst. Angst reduziert entscheidend unsere Lernkapazität, vor allem, wenn wir versuchen sie zu verbergen oder zu überspielen. Wenn wir Fehler hingegen als einen wesentlichen Teil des Lernprozesses ansehen, dann können wir es regelrecht genießen, sie zu entdecken. Einen Fehler zu finden heißt, dass wir bereits etwas gelernt haben, sonst könnten wir ihn ja gar nicht als solchen erkennen.
    Worüber wir uns stets freuen könnten, wäre da nicht der Innere Kritiker. Der schärfste Kritiker unserer selbst befindet sich regelmäßig in unserem Inneren. Der Innere Kritiker interessiert sich nicht für das, was ist, sondern immer nur für das, was sein sollte. Ihn zu identifizieren und zu entschärfen ist daher einer der wesentlichen Lernschritte in der Schule des Seins.
  5. Nichtwissen. Für Nichtwissen gab es selten gute Noten. Und so haben wir gelernt, Wissen sei besser als Nichtwissen. Dem ist nicht so. In der Schule des Seins ist Nichtwissen genauso willkommen wie alles andere, was ist. Wissen ist nicht immer hilfreich. Es kann ein enormer Ballast sein und unseren neugierigen Blick und unsere Offenheit für das verstellen, was jenseits der eingefahrenen Vorstellungen der Schulweisheit liegt. Demgegenüber kann Nichtwissen, befreit von aller Diskriminierung, ein Zustand offener Weite sein, eine prickelnde Abenteuerlust und Ausgangspunkt sprühender Kreativität. Geniale Erfindungen entstanden niemals aus einem angestrengten Anhäufen von Wissen, sondern aus dem Mut, altes Wissen loszulassen und ganz ohne Vorannahmen herum zu fantasieren. Und – Heureka! – wie aus dem Nichts erscheint plötzlich die neue Erkenntnis. Mit Freude lernen heißt also vor allem auch, nichts wissen müssen, sondern frei zwischen Wissen und Nichtwissen hin und her zu pendeln.
  6. Humor. Lachen ist nicht nur entspannend und heilsam, sondern auch lehrreich. Mit Humor sind wir in der Lage, allzu festgefahrene Verhaltens- und Denkgewohnheiten zu relativieren und uns für neue Perspektiven zu öffnen. Humor befreit uns aus so mancher Problemtrance. Diese erkennen wir an der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Haltung: „Darüber lacht man nicht!“ Wenn wir die wirklich ernsten Angelegenheiten des Lebens mit Humor anschauen können, sind wir frei, neue Wege zu gehen und Hinderliches hinter uns zu lassen.
    Humor bedeutet nicht, uns über etwas oder jemanden zu erheben oder etwas lächerlich zu machen. Es gibt einen feinen Grad, auf dem wir uns mit der Empathie unseres Herzens berühren zu lassen und es insofern ernst nehmen, ohne zugleich dem Bann der Ernsthaftigkeit zu verfallen. Dies ist eine der Kernkompetenzen in der Kunst des Seins.
  7. Der Weg. Freude am Lernen haben wir eher, wenn wir nicht nur das Lernziel im Auge haben, sondern auch den Weg dorthin. Denn die meiste Zeit nimmt der Weg in Anspruch. Die Momente, in denen wir ein Ziel erreichen, sind vergleichsweise kurz. Manche Teilstrecken gehen wir ganz ohne Ziel. Solche Phasen sind wichtige Gelegenheiten der Neuorientierung. Insofern ist entscheidend, dass bereits auch der Weg selbst Spaß macht und uns mit soviel abwechslungsreicher Sinnenfreude, emotionaler Berührung und intellektueller Beweglichkeit inspiriert, dass das Erreichen von Zielen nur noch die Sahne auf dem Kuchen unserer Erlebnisse und Erfahrungen ist.
  8. Offenheit. In jedem Lernprozess kann auch mal etwas schief gehen. Das wird uns nicht immer freuen. Ein heilsames Lernklima bedeutet auch, nicht auf Freude oder überhaupt auf bestimmte Gefühle oder Abläufe fixiert zu sein. Freude am Lernen ist eher ein Nebenprodukt, ähnlich wie Glück im Leben. Wenn wir dem Glück hinterher rennen, laufen wir leicht daran vorbei. Auch die vermeintlich negativen Gefühle gehören zum Leben wie auch zum Lernen. Dies anzuerkennen erhöht die Chance, in jedem Moment wirklich anwesend zu sein, und das ist das Wesentliche in einer Schule des Seins. Auf dieser Basis werden auch Gefühle, die sich mit einem Misserfolg einstellen, zu kraftvollen Motivatoren, uns noch mehr ins Zeug zu legen für alles das, was uns wirklich am Herzen liegt.
  9. Lernen in Gemeinschaft. In einer Gruppe lässt sich vieles leichter und freudvoller Lernen als allein, vor allem wenn das Lernumfeld der Gruppe hilfreich und heilsam gestaltet wird. Wir können uns in Gruppen gegenseitig unterstützen. Wir konfrontieren uns auch mit all unseren blinden Flecken, die wir allein regelmäßig übersehen. Wenn die obigen Kriterien Berücksichtigung finden, dann kann sogar entlarvt zu werden, was viele Menschen sonst fürchten wie der Teufel das Weihwasser, eine beglückende und erheiternde Erfahrung sein. Und wir können immer wieder erleben, dass das, was ist, uns miteinander verbindet und uns wachsen lässt.

Ein wohlwollendes, hilfreiches und heilsames Lernfeld lädt ein, mit ganzem Herzen dabei zu sein, mit Körper, Geist und Seele. So lernen wir, begeistert bei der Sache und bei uns selbst zu sein. Es geht um etwas. Um was es geht, das wählen wir selbst aus. Herauszufinden, was uns wirklich etwas wert ist, ist dabei ein wesentlicher Lernprozess. Freude kann dabei ein Wegweiser sein, solange wir nicht darauf fixiert sind. Wir lernen, uns beim Lernen und Entdecken wohlwollend zu beobachten. Wir lernen mehr und mehr, unseren Lernprozess zu steuern und zwischen Wohlbefinden und Herausforderung das rechte Maß zu finden.

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