Kann man Sein lernen? Lebensschule oder Liebesschule, darunter können manche sich etwas vorstellen. Aber Schule des Seins? Ist es nicht ein Widerspruch in sich, einfach nur sein lernen zu wollen? Denn wenn es uns gibt, dann brauchen wir es ja wohl nicht lernen.
Und wenn es uns nicht gibt? Wie sollten wir dann etwas lernen können?
So sieht es unser Verstand, der es gewohnt ist, in Kategorien von Entweder-Oder zu denken. Wenn wir jedoch tiefer in uns hinein lauschen, bemerken wir sehr schnell, dass wir mal mehr, mal weniger da sind. Da zu sein wäre dann weniger eine Frage von entweder-oder, sondern von mehr oder weniger. Wir könnten also lernen, immer mehr da zu sein, anwesend zu sein. Darum geht es wesentlich in der Schule des Seins.
Unsere Existenz ist uns unzweifelhaft gegeben, aber sie ist niemals fertig. Wirst du noch oder bist du schon? Diese Frage klingt albern, weil da zu sein etwas ist, was durch stetes Werden gekennzeichnet ist. Werden ist nicht eine Vorstufe des Seins, sondern Sein ist Werden. Wir sind in stetiger Veränderung begriffen. Das zu akzeptieren und voll und ganz zu nehmen fällt uns nicht immer leicht, vor allem in einer Kultur, in der wir uns gegen jede Unwägbarkeit des Lebens meinen versichern zu können. Zuallererst gilt es also zu lernen, uns auf die stete Entwicklung, zu der uns unsere Existenz herausfordert, wirklich einzulassen. So gesehen ist das ganze Leben ein einziger großer Lernprozess. Jeder einzelne Moment des Lebens lehrt uns etwas und erweitert unsere Möglichkeiten zu denken, zu fühlen und zu handeln. Das pure Dasein begleitet uns zwar von Anfang an und insofern brauchen wir es nicht erst zu lernen. Uns aber dessen gewahr zu werden, was das wirklich bedeutet, das scheint alles andere als gegeben. Wir sind gefordert, unsere Existenz mehr und mehr zu nehmen, sonst kann es leicht sein, dass wir an uns selbst vorbei leben.
Unser pures Dasein scheint uns so selbstverständlich, dass wir darauf gewöhnlich wenig Aufmerksamkeit verwenden. Wir nehmen es als gegeben hin, dass es uns gibt, dass wir existieren. Diese Tatsache bekommt erst dann größere Bedeutung, wenn wir mit dem Tod konfrontiert werden, mit der Möglichkeit, eines Tages nicht mehr zu existieren. Interessanterweise berichten viele Menschen, die dem Tod begegnet sind, dass sie erst danach begonnen haben, ihr Leben, ihre Existenz wirklich wert zu schätzen. Es gibt eine Qualität des Daseins, die uns bei aller vermeintlichen Selbstverständlichkeit leicht durch die Lappen geht. Wir leben, wir sind da, es gibt uns, aber nehmen wir selbst das so richtig wahr? Sind wir uns dessen bewusst? Sind wir uns der Tiefe und Bedeutung unseres Seins gewahr? Sind wir in Fühlung mit unserem Sein? Und was macht das für einen Unterschied?
Wenn wir die Erfahrung einmal bewusst gemacht haben, wie anders sich das Leben anfühlt und gestaltet, wenn wir darin anwesend sind, dann können wir nur noch staunen, wie leicht es war, das zu übersehen. Wir könnten vielleicht sogar daran verzweifeln zu sehen, wie viele Menschen ohne jeden Sinn für ihr Dasein ihr Leben verbringen, und womöglich auch, wie oft wir selbst in diesen Zustand zurückfallen. Wir können uns jedoch auch in die gewaltigen Kräfte einfühlen, die in uns und in unserer Kultur dem Sinn für das Leben entgegen stehen und uns geneigt sein lassen, das Leben von der Geburt bis zum Tode einfach ablaufen zu lassen, ohne je innezuhalten und uns gewahr zu werden: „Hey, ich bin da! Es gibt mich!“
Aus diesem Gewahrsein entspringt Neugier. Was bedeutet es, dass es mich gibt? Wer bin ich überhaupt? Was fange ich mit meinem Dasein an, nun da ich weiß und spüre, dass es mich gibt und ich dieses ungeheure Geschenk in den Händen halte? Aus dieser Neugier heraus sind wir bereit, die oft komfortablen, manchmal aber auch quälenden, eingefahrenen Routinen eines Lebens zu verlassen, das wie vom Autopiloten gesteuert verrinnt, ohne dass darin jemand zu Hause ist. Stattdessen werden wir neugierig auf die Tiefendimensionen unserer Existenz. Wir sind weniger beunruhigt, wenn sich etwas bewegt. Wenn die Oberflächen unseres Daseins, die wir auch unsere Identität nennen könnten, Kratzer abbekommen oder gar aufbrechen, freuen wir uns über die tieferen Einblicke, die uns ermöglicht werden. Der Lack blättert ab. Die oberen Schichten werden zunehmend durchlässiger und durchscheinender für das, was aus der Tiefe ans Licht drängt. Die Oberfläche dessen, was in unserem Leben geschieht, ist immer weniger Schutzpanzer und Maskerade, sondern immer mehr die Kontaktstelle, an der wir jederzeit in die Tiefen unseres Seins vordringen können.
Für dieserart Neugierige gibt es die Schule des Seins. Die Schule des Seins ruft alles das ins Bewusstsein, was sowieso bereits da ist, uns aber in seiner Eigenart entgeht und von uns verkannt wird, weil wir damit beschäftigt sind, andere Pläne zu schmieden oder bereits Vergangenem nachzuhängen. Die Schule des Seins ist eine Einladung, uns selbst, einander und das Leben mit allen Sinnen zu erforschen, uns mit dem Offensichtlichen genauso wie mit den verborgenen Mysterien des Daseins vertraut zu machen und uns in diesen permanenten Prozess des Werdens bewusst und wach hinein zu entspannen. Aus unserem Sein wird Bewusst-Werden, was es genau genommen von Anfang an ist: ein Prozess, in dem das, was ist, immer wieder zu sich selbst findet.
Wir sind die Subjekte dieses Prozesses. Er vollzieht sich in uns und durch uns. Wir kommen zu uns selbst, indem wir voller Neugier immer wieder uns selbst betrachten, als sei es das erste Mal. Früher oder später gerät dabei auch die Grenze zwischen „Das bin Ich!“ oder „Das gehört zu mir!“ und allem jenseits davon in den Blick. Wir erkennen unser Sein auch jenseits der Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich. Diese Erfahrung heißt Liebe. Sie ist eine tiefe, manchmal unerklärliche, oft magische, aber uns immer über alle Grenzen hinweg verbindende Kraft. Sie wohnt im Herzen unserer Existenz, ohne dass wir sie erschaffen müssten. Tief mit uns selbst und unserem Sein verbunden kreist unsere Neugier nicht mehr nur um unseren eigenen Bauchnabel, sondern lässt sich von der Lebendigkeit allen Seins inspirieren und faszinieren.
Dieser spannende und zugleich auch ent-spannende Prozess erinnert nur wenige Menschen an das, was sie selbst zu Schulzeiten erlebt haben. Im Gegenteil: in der Schule wurde uns Kindern unsere angeborene Neugier weitgehend ausgetrieben. Mittels Lehrplänen und Schulnoten wurden wir darauf abgerichtet, Dinge zu lernen, die uns oft nicht interessiert haben. Unsere Aufmerksamkeit wurde systematisch von dem abgelenkt, was ist. Und wie es uns selbst dabei geht, was wirklich in uns vorgeht und wie wir uns dabei fühlen, das wollten wir irgendwann freiwillig nicht mehr spüren, weil es zu schmerzhaft war. Lernen wurde zu einem Prozess, uns von uns selbst abzutrennen. Kein Wunder, das wir uns tief innen nach einem Leben sehnen, in dem es nichts mehr zu lernen gibt, in dem wir einfach sein können. Dabei verkennen wir jedoch, dass Leben ganz von allein ein ständiger Lernprozess ist, dass einfaches Dasein in der Regel nichts von der plumpen Entspannung eines Kartoffelsacks hat, sondern eher von der pulsierenden Lebendigkeit eines Urwaldes, in dem es niemals still wird, in dessen Gewahrsein aber etwas in uns zur Ruhe und zu sich selbst kommt.
Die Schule des Seins repräsentiert diese Grundqualität unseres Daseins. Das Sein ist ein steter Prozess, sich seiner selbst gewahr zu werden. Dies wieder zu begrüßen, es voller Neugier zu genießen und darin unser Zuhause, unsere innere Bewegung und unsere Aufgabe zu finden, dafür gibt es die Schule des Seins. Die Schule des Seins ist eine Miniaturausgabe der große Schule unseres Daseins, in der wir alle zur Schule gehen, ob wir das nun wollen oder nicht. Und wie alles Dasein ist die kleine wie die große Schule des Seins in jedem Moment das, was sie gerade ist und wird. Es gibt keine festen Lehrpläne und keine Schulnoten. Unsere Faszination und Aufmerksamkeit gilt allem, was ist, indem es in diesem Moment gerade bewusst wird.
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