Lernen zu sein beinhaltet eine der grundlegenden Paradoxien unserer Existenz. Gewöhnlich geht es beim Lernen um irgendeine Form von Aktivität. Wir eignen uns gewisse Fähigkeiten an, etwas zu tun, auf bestimmte Weise zu denken oder zu fühlen. Oder wir füttern unser Gehirn mit Informationen. Aber einfach nur sein? Was gibt es da zu lernen? Nichts! Wir lernen, nichts zu tun! Obwohl es einfach klingen mag, ist es doch eine der schwersten Lektionen des Lebens. Und vielleicht die wichtigste in der Schule des Seins?
In unserer Kultur sind wir permanent in Aktivität, und der größte Teil davon ist uns nicht bewusst. Wir sind Getriebene, die Mühe haben, innezuhalten und zur Ruhe zu kommen. Unterschwellig gehen wir davon aus, dass es uns ohne unser zutun gar nicht gibt. In Redewendungen wie „sich eine Existenz aufbauen“ kommt zum Ausdruck, dass wir meinen erst etwas tun zu müssen, bevor es uns gibt. „Cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) befand 1637 René Descartes, und auch in diesem berühmt gewordenen Fundament der Philosophie der Aufklärung zeigt sich unsere Auffassung, dass wir niemals aufhören können zu denken, unser Denken also grundlegender ist als unser Sein. Viele Menschen – sogar wenn sie sich vielleicht auf der bewussten Ebene nach dem dolce far niente, dem süßen Nichtstun, sehnen – haben unterschwellig Angst vor der Leere, die eintritt, wenn sie nichts mehr tun.
Lernen zu sein bedeutet also nicht zuletzt, Aktivität loslassen zu können und inne zu halten. Dafür allerdings müssen wir uns erstmal dessen bewusst werden, wie durchgängig wir im Tun verhaftet sind. Unsere Fixierung auf das Tun in seinem ganzen Ausmaß zu bemerken kann unangenehm, kann sogar ein Schock sein. Es fühlt sich zu Beginn oft an wie ein Hamsterrad, das sich so schnell dreht, dass uns schwindelig wird, wenn es deutlich langsamer wird. Daher drehen wir oft wieder auf, bevor das Rad zum Stillstand kommt.
Wie konnte es dahin kommen? Als Kinder kommen wir noch nicht mit dem Bewusstsein eines Ich auf die Welt. Unsere Ich-hafte Selbstwahrnehmung bildet sich erst langsam heraus, und zwar im Spiegel eines Du, von dem wir uns nach und nach differenzieren. Am Anfang sind Mutter und Kind noch eins, später hoffentlich nicht mehr. Wenn wir jedoch, wie in unserer Kultur üblich, als Babys häufig allein gelassen werden, dann lernen wir recht früh, dass wir etwas tun müssen, um uns im Spiegel unserer Mutter oder einer anderen Bezugsperson lebendig zu erfahren. In Kulturen, in denen Babys lange am Körper der Mutter getragen werden, ist die Glücksfähigkeit deutlich größer als bei uns. Gut möglich, dass es damit zu tun hat, dass Kinder sich unter solchen Umständen nicht erst ihre Existenz aufbauen oder gar ihre Existenzberechtigung erwerben müssen, sondern in die Erfahrung hinein wachsen, dass es sie auch dann gibt, wenn sie nichts tun.
Für uns, die wir nicht unter solch glücklichen Umständen aufgewachsen sind, ist das pure Dasein also etwas, zu dem wir erst wieder Zugang bekommen müssen. Wir Lernen es, indem wir unsere Aktivität beobachten und reiner Zeuge werden. Am Anfang ist auch dieses Beobachten noch ein Tun. Es strengt uns an uns auf das reine Bezeugen zu konzentrieren. Mit zunehmender Übung merken wir jedoch, dass Zeuge zu sein am Besten gelingt, wenn wir jede Anstrengung gehen lassen. Es erweist sich gerade als die Abwesenheit unseres Tuns. Wir könnten also sagen, Zeuge zu sein, ohne eingreifen zu wollen in das, was sich auf der Bühne unserer Wahrnehmung zeigt, ist unser wahres Sein.
Der Königsweg, unser unmittelbares Sein wieder zu realisieren, ist traditionell die Meditation. Während dies früher bedeutete und in manchen spirituellen Schulen immer noch bedeutet, über Stunden, Tage, Wochen oder gar Jahre still zu sitzen, sind inzwischen viele Meditationsformen ersonnen und erprobt worden, die unserem unruhigen Geist entgegen kommen und uns erstmal zu bewusster Aktivität anleiten, um dann in der stillen Phase umso leichter loslassen zu können. Letztlich sind dies alles Vorübungen, um zunehmend auch mitten im prallen Leben, inmitten aller Aktivität, unsere Basis des puren Seins, des Gewahr-Seins, nicht mehr zu verlieren oder zumindest immer wieder zu finden.
Entscheidend für diesen Prozess ist es zu lernen, unsere Aufmerksamkeit bewusst zu lenken. Worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit? In einer Zeit, in der unsere Aufmerksamkeit längst zur heiß umkämpften Ware geworden ist und wir permanent mit Reizen bombardiert werden, um unsere Aufmerksamkeit zu erringen, ist es keine leichte Übung, selbst zu entscheiden, wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Ablenkungen aller Art sind allgegenwärtig und fordern uns heraus. Was aber möglicherweise das größte Hindernis ist, um diesen Ablenkungen zu widerstehen, ist unser Horror Vakui, unsere Angst vor dem Nichts, die uns dann doch immer wieder dankbar zu Ablenkungen greifen lässt. Diesen Prozess werden wir nicht von heute auf morgen stoppen können. Aber wir können beginnen, auch dies zu beobachten: wie wir von Ablenkungen aller Art angezogen werden.
Diese Methode der Selbsterforschung ist der Königsweg in der Schule des Seins. Vor allen anderen Methoden besteht unsere Praxis darin, den inneren, unvoreingenommenen Zeugen in jede Art von Erfahrung einzuladen, seine Anwesenheit und – paradoxerweise – auch seine Abwesenheit wahrzunehmen und damit den Unterschied, der daraus resultiert. Der Unterschied erscheint den meisten Menschen am Anfang recht gering und zu vernachlässigen. Alles Mögliche Andere erscheint wichtiger. Mit zunehmender Praxis wird uns jedoch deutlich, wie entscheidend der Unterschied ist, ob in unserer Erfahrung der innere Zeuge anwesend ist oder nicht, oder in welchem Ausmaß. Es ist der Unterschied, ob wir selbst in unserem Leben anwesend sind oder nicht. Es ist der Unterschied, ob wir wir selbst sind oder nur so tun als ob...
Tiefere Dimensionen unserer Existenz werden uns erst zugänglich, wenn die Seinsqualität Einzug in unsere Erfahrung hält und diese trägt. Wer wir jenseits all der Rollen, Muster und Gewohnheiten sind, mit denen wir uns üblicherweise identifizieren, werden wir erst im Gewahrsein unseres Seins herausfinden können. Auch die Geheimnisse der Liebe werden wir erst lüften, wenn Liebe nicht mehr an unsere Vorstellungen gebunden ist, was wir zu tun haben, um überhaupt eine Existenzberechtigung zu haben. Wir werden uns hemmungsloser unseren Wünschen und Sehnsüchten widmen können, je weniger wir Ent-täuschungen fürchten müssen. Enttäuschung erleben wir oft als ein Fallen, aber wir können nicht tiefer fallen als in unser Sein. Wenn wir dem vertrauen, können wir entspannen. Im Vertrauen ins Sein werden auch wir auch freier, Ziele anzustreben und Erfolge zu feiern. Denn wir dürfen auch Scheitern.
In inniger Verbundenheit mit unserem Sein spüren wir die Verbundenheit mit allem, was ist. Wir durchschauen unsere abgesonderte Individualität als das, was sie ist: eine geniale Konstruktion des Bewusstseins, die uns unsere höchst praktische subjektive Lebensperspektive ermöglicht. Durch den Dschungel der Erfahrungen zu gehen ist weit abenteuerlicher als ihn nur aus der Vogelperspektive zu betrachten. Nicht alles sehen zu können, wie es unsere Subjektivität eben mit sich bringt, ist also nicht nur ein Verlust, sondern auch ein Gewinn. Ohne sie wäre das Leben so interessant wie ein Fußballspiel mit nur einer Mannschaft.
Dennoch, soweit wir mit dem unmittelbaren Sein verbunden sind, wissen wir uns über alle Grenzen hinweg verbunden. Die Verbindung mit unserem Sein repräsentiert letztlich unsere Verbindung mit Gott als dem Urgrund der Schöpfung und aller Manifestation. Im wachsenden Vertrauen in diesen Urgrund erfahren wir Empfänglichkeit, Überfluss und Gnade.
Von nichts kommt nichts? Das mag in einem überschaubaren Kontext richtig sein. In einem größeren Kontext stimmt jedoch das genaue Gegenteil: Alles kommt aus dem Nichts. In diesem Bewusstsein können wir wirklich loslassen. Lernen zu sein lohnt sich also in vielerlei Hinsicht. Das heißt nicht, dass wir nichts mehr zu tun hätten. Unser Tun verändert aber seine Qualität, wenn es aufgehoben ist und getragen wird im Gewahrsein unseres Seins.
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