Von der Fähigkeit zu antworten zur Verbundenheit mit allem, was ist
Verantwortung ist vielleicht einer der am meisten missverstandenen und missbrauchten Begriffe in unserer Gesellschaft. Allerorten wird sie eingefordert, aber wesentlich seltener wahrgenommen. Es lohnt sich, hier mit einigen grundlegenden Überlegungen für mehr Klarheit zu sorgen.
In der Schule des Seins spielt die Frage der Verantwortlichkeit eine zentrale Rolle. Denn im wohlverstandenen Gewahrsein unserer Verantwortung können wir am besten lernen, unser Leben zu leben und das Dasein zu feiern.
„Wer trägt dafür die Verantwortung?“ Als unser leicht cholerischer Klassenlehrer wieder einmal diese Frage ins Klassenzimmer bellt und dabei rot anläuft, weicht jeder im Raum möglichst unauffällig seinem unruhig umherschweifenden Blick aus. „Hoffentlich fragt er nicht ausgerechnet mich, ich kann nicht gut lügen“, denkt sich ein jeder. Denn wir alle wissen, wer die beleidigende Bemerkung an die Tafel geschrieben hat.
Wer hat niemals solche oder ähnliche Szenen zuhause oder in der Schule erlebt? Die meisten von uns haben daraus den Schluss gezogen, dass man Verantwortung am besten so lange wie möglich aus dem Weg geht. Sie ist eine schwere Last. Sie zu übernehmen zieht unangenehme Konsequenzen nach sich. Die meisten Schulen treten zwar mit dem Anspruch an, ihre Schutzbefohlenen zu mündigem Verantwortungsbewusstsein zu erziehen. Leider geschieht dies in der Regel über den Hebel der Einschüchterung, was die gewünschte Wirkung minimiert. Noch viel gravierender ist aber die implizite Botschaft: Verantwortung zu übernehmen ist bestenfalls eine lästige Pflicht. Dass die Wahrnehmung von Verantwortung uns befreit, erleichtert, Freude bereitet und unserem Leben Sinn gibt, auf diese Idee kommt nach der üblichen Schulung wohl kaum jemand.
Dabei haben die meisten Kinder sich einmal, als sie noch klein waren, darauf gefreut, wesentliche Entscheidungen selbst treffen zu dürfen und dann auch für die Konsequenzen gerade zu stehen. „Wenn ich erst mal groß bin, dann darf ich ...“ Die Liste war lang. Sie enthielt die Verheißung, vollwertig am Leben teilnehmen zu dürfen, sobald wir die volle Verantwortung für uns tragen können. Wenn wir dann aber endlich die Volljährigkeit erreicht haben, hat sich unsere Perspektive verändert. Die meisten Menschen sind irgendwann zu der Überzeugung gelangt, dass man, wenn es drauf ankommt, doch lieber abtaucht. Die Suche nach dem Verantwortlichen gleicht dem „Schwarzer Peter“-Spiel unserer Kindertage, mit dem wesentlichen Unterschied, dass es unter Erwachsenen todernst gespielt wird, gerade so als sei es gar kein Spiel. Wir brauchen nur eine beliebige Tageszeitung aufzuschlagen und finden reichlich Beispiele. Wenn in der Tagesschau mal wieder ein Politiker „die volle Verantwortung übernimmt“, dann ist sein Statement meist ein anschauliches Beispiel dafür, was Verantwortung eigentlich nicht ist:
Im öffentlichen Leben finden wir zahllose und allzu oft krasse Beispiele dafür, wie Verantwortung missverstanden oder vorgetäuscht wird. Alle diese Pseudoformen von Verantwortung finden sich aber auch in unserem Privatleben: Schuldzuweisungen, Lippenbekenntnisse oder einfach Abtauchen. Wer ist davon ganz frei? Aber was wäre denn eine echte Übernahme von Verantwortung? Und was bringt sie uns?
Das englische Wort „Responsability“ weist uns den Weg zu einem tieferen Verständnis. Wörtlich übersetzt heißt response-ability „die Fähigkeit zu antworten“. Verantwortung beinhaltet demnach die Fähigkeit, auf die vielfältigen Herausforderungen des Lebens gemäß unseren Impulsen, unseren Werten und unserem Verständnis zu antworten. Wenn wir hingegen von einem Missstand erfahren und behaupten, dafür seien andere verantwortlich, dann verweigern wir unsere eigene Antwort und damit auch unseren Beitrag zur Lösung des Problems. In einem umfassenden Sinne sind wir nicht nur für das verantwortlich, was wir selbst verursachen, sondern für alles, was in unserem Bewusstsein auftaucht. Alles, dessen wir gewahr werden, fordert uns zu einer Antwort heraus, ob uns das nun passt oder nicht. Niemand sonst kann unsere Antwort geben.
Die Antwort auf die Frage des Klassenlehrers „Wer ist dafür verantwortlich?“ müsste so gesehen lauten: wir alle, die wir davon Kenntnis haben. Genauso sind wir auch alle dafür verantwortlich, auf die Bedrohung des weltweiten Klimawandels oder auf die weltweit eklatante soziale Ungerechtigkeit zu antworten, jeder auf seine Art und nach seinen Möglichkeiten. Wir alle haben davon gehört, es gehört zu unserer Lebensrealität. Dass wir auf einer tieferen Ebene um unsere Verantwortlichkeit wissen, kommt in der Redewendung zum Ausdruck „Sage später niemand seinen Kindern, er habe davon nichts gewusst!“ Genau dies war eine der bevorzugten Antworten von Eltern, von ihren Kindern auf ihre Rolle in der Nazizeit angesprochen.
Im obigen Klassenzimmer-Beispiel sind folglich sowohl Lehrer als auch Schüler verantwortlich. Es kommt auf ihrer aller Antwort an:
Wir antworten so oder so, auf jeden Moment des Lebens. Wir können nur wählen, ob wir das bewusst oder unbewusst tun:
Welchen Nutzen kann es haben die zweite Option zu wählen? Sie macht nur Sinn, solange Verantwortung als „Schwarzen Peter“ angesehen wird, den wir uns vom Hals halten wollen. Sobald wir jedoch verstehen, wie dieses „Spiel“ nicht nur unsere persönlichen Beziehungen und unser unmittelbares Umfeld, sondern auch unsere Seele und sogar unseren Planeten vergiftet, werden wir nach Möglichkeiten suchen wollen aus dem Spiel auszusteigen. Und es gibt noch mehr gute Gründe unsere Perspektive zu wechseln.
Verantwortung bedeutet, mit dem Leben in einen Dialog zu treten, anstatt zu monologisieren oder dies anderen zu erlauben. Was auf der Ebene der Worte Monologe sind, sind auf der Ebene des Handelns Monopole. Unser Planet gleicht mehr und mehr einem weltweiten Monopoly. Fast überall auf der Erde befinden sich Grund und Boden fast vollständig und Wasser zunehmend in Privatbesitz. Mehr und mehr werden Pflanzen und sogar Tierarten patentiert. Das alles ist Ausdruck nicht wahrgenommener Verantwortung, was sich wenige, vermeintlich Clevere zunutze machen. Wann wird auch das Atmen etwas kosten? Wann realisieren wir, dass uns die Erde allen zusammen gehört und wir alle gemeinsam verantwortlich sind?
Mancher mag sich nun fragen „Sind wir denn nun für alles und jedes verantwortlich? und diese Frage sogleich verneinen: Das kann es doch wohl auch nicht sein! Stimmt! Es gibt Menschen, die sich für alles zuständig fühlen, sich dabei selbst hoffnungslos überfordern und damit weder sich selbst noch der Gemeinschaft wirklich dienen. Wenn wir uns so verhalten, werden wir nicht von unserem Verantwortungsgefühl getragen, sondern von Schuldgefühlen angetrieben. Unsere Verantwortung kann zuweilen auch darin zum Ausdruck kommen, dass wir uns davon abgrenzen, die Verantwortung anderer zu übernehmen.
Aber woran merken wir, dass wie die Verantwortung anderer übernommen haben? Wir merken es nicht daran, dass wir zuviel Verantwortung tragen, sondern nicht unsere eigene. Anstatt für uns selbst sprechen wir für andere, entmündigen sie damit und übergehen unsere eigenen Impulse. Indem wir uns so verwickeln frustrieren wir uns selbst und andere. Je mehr wir wieder auf uns selbst hören, wird uns klar:
Wir können das traditionelle Verständnis von Verantwortung und das neue, das ich hier vorschlage, einander gegenüberstellen:
Im alten Verständnis wird ein Verantwortungskuchen in Stücke zerlegt und verteilt, wobei er eigentlich niemandem wirklich schmeckt und sich daher die meisten darum herumdrücken ein Stück abzukriegen. Im neuen Verständnis backt jeder seinen eigenen Kuchen. Vielleicht tun sich auch mehrere beim Backen zusammen oder sprechen sich ab. In jedem Fall ist so die Chance auf eine gemeinsame Kaffeetafel, an der wir alle gerne teilhaben, weitaus größer. Mein Beitrag kann dabei durchaus auch darin liegen, mich aus der Bäckerei ganz herauszuhalten. Vielleicht koche ich dann den Kaffee.
Ich schlage also vor, dass wir jeweils nach unseren eigenen Anliegen und Möglichkeiten Ausschau halten, unsere Lebenssituation in unserem Sinne zu gestalten. Damit übernehmen wir Verantwortung. Wir tun dies jedoch nicht allein. Wir wirken gemeinsam an etwas Größerem. Wir können uns durchaus helfen lassen oder anderen helfen und auf vielfältige Weise und in unterschiedlichsten Rollenaufteilungen kooperieren. Wenn jemand dabei nur an sich selbst denkt, ist dies weniger ein Zeichen von ausuferndem Egoismus, sondern von engem Bewusstseinshorizont. Wenn wir immer nur an uns selbst denken, isolieren wir uns und schaden uns damit irgendwann selbst. Es liegt also auch in unser aller Verantwortung, uns selbst und einander daran zu erinnern, dass wir nur miteinander auf Dauer erfolgreich sein und ein wirklich erfüllendes Leben leben können.
Jeder von uns ist jederzeit für sein Leben verantwortlich. Aber da unser aller Leben eng miteinander verwoben ist, sind wir eben nicht nur, wie manche Esoteriker gern glauben machen, für uns selbst verantwortlich. In der Erzählung „Der kleine Prinz“ von Saint-Exupéry erfahren wir auf bezaubernde Weise, dass wir für alles verantwortlich sind, was wir uns vertraut gemacht haben. Tiefe Verbundenheit und auch Liebe werden nur möglich im Gewahrsein unserer wechselseitigen Verantwortung. Was immer ich tue oder nicht tue, hat auch Konsequenzen für dich. Auch dafür bin ich verantwortlich, weil es mich berührt und zu meiner Lebenswirklichkeit gehört, wie es dir geht – sogar dann, wenn ich versuche mich davor zu schützen. Ich kann unsere Verbundenheit nicht aus der Welt schaffen, ich kann sie lediglich aus meinem Bewusstsein verbannen.
Das vorgeschlagene neue Verständnis von Verantwortung hat für Form und Inhalt der Schule des Seins weit reichende Konsequenzen, in der Konzeption genauso wie in der Durchführung jeder einzelnen Veranstaltung. Verantwortung richtig zu verorten ist paradoxer Weise sowohl Grundlage als auch wesentliches Lernziel. Nicht nur die Schülerinnen und Schüler lernen diesbezüglich ständig dazu, sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer. Letztere tragen insbesondere dafür die Verantwortung, dass das Lernziel der Verantwortungsfähigkeit und -bereitschaft nicht aus dem Blick gerät.
Verantwortung selbst kann nicht gelernt werden, sie ist eine schlichte Tatsache. Wir alle tragen Verantwortung. Alles andere ist Täuschung – allerdings eine sehr wirksame. Was wir allerdings lernen können, ist unsere Verantwortung wahrzunehmen und daran mehr und mehr Freude zu entwickeln. So haben wir dann auch weit mehr Freude daran erwachsen zu werden, so wie wir uns das als Kinder mal erträumt haben. Wir dürfen unser Leben leben und es verantworten. Was für ein Geschenk.
In der Schule des Seins arbeiten wir nicht zuletzt an dieser Erinnerung. Dies spiegelt sich auch in unserem Verständnis der Rollen wieder, die Lehrerinnen und Schüler, Gruppenleiter und Gruppenteilnehmerinnen zueinander einnehmen, und in den Verantwortlichkeiten, die beiden Seiten daraus erwachsen.
Bildnachweis: Bild 1 (Denken unerwünscht) pixelio © Gerd Altmann, alle weiteren © Matthias Riek
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